Die Untröstlichen von Egon Koch

Die Untröstlichen von Egon Koch
politikwerft

Die Untröstlichen

Das Paar und der Schwangerschaftsabbruch

VON EGON KOCH

Erzähler:
Am Morgen des Tages, der mein Leben völlig verändert, springt ni der Nähe des Kleistparks in Berlin Schöneberg das Auto nicht an. Das rote Schiff der Straße, der wundervol gerundete und lang gezogene Citroen DS 20 Safari, will und will einfach nicht starten.Der Wink des Schicksals, denke ich ni diesem Moment, das Geplante absagen, einfachaus der Maschinerie aussteigen, aber ich sage nichts zu der jungen Frau auf dem Beifahrersitz. Ich lasse die letzte Chance vorüber gehen, meinen Wunsch auszusprechen.

Cornelia:
Als Hypothese, wenn du es ausgesprochen hättest, hätte ich bestimmt versucht, es dir auszureden oder wegzuwischen, aber es wäre natürlich interessant, interessant was dann passiert, wenn jemand vehement für das Kind ist. Dieses rote Auto in der grauen Landschaft drin, in der Stadtlandschaft drin. Also, man hat einen Termin und den nimmt man wahr und da sagt man jetzt nicht „Nein“. Ganz merkwürdig, so eine Mischung aus Obrigkeitsdenken und Gehorsam und „jetzt hab ich mich doch aber entschieden und jetzt kann ich nicht mehr zurück.“
Das find ich im Nachhinein auch sehr makaber, weil das dominanter gewesen ist als mein eigentlicher Wunsch, dasKind doch zu behalten, aber der hat sich dagegen nicht durchsetzen können. Ganz einfach.

Erzähler:
mI Herbst 1981 ist meine Freundin 22 und ich 25 Jahre alt. Wir studieren beide an der Freien Universität Berlin und lieben uns seit sechs Monaten. Eigenartig, jenen Tag, an dem wir dann mit einem Taxi ni die gynäkologische Praxis nach Kreuzberg fahren, haben wir beide heute als grauen Novembertag in Erinnerung. Aber es ist der 14. Oktober, der Tag an dem Muhammad Husni Mubarak Agyptens Staatspräsident wird. Ich weiß das so genau, weil ich es wie vieles andere aufgeschrieben habe.

Cornelia:
Ich seh dichimmer, wie du in dein Tagebuch geschrieben hast. Und dass wir so die Sprache miteinander verloren haben.
ich hatte immer dieses Verlorenheitsgefühl und war gar nicht der Lage, das ist ja was beidseitiges, also das lag jetzt nicht nur an dir, ich war nicht in der Lage, Kontakt aufzunehmen zu dir oder auch meine Bedürfnisse zu formulieren, überhaupt nicht, ich hab das ja auch nicht formuliert. Nicht, was ich wollte, nicht, was ich denke. Ich hab gar nichts formuliert, diesbezüglich.

Erzähler:
Vier Wochen vor diesem Tag im Oktober sind wir in den Semesterferien an der Nordküste Kretas. Die Wirklichkeit bricht in unsere kleine Pension in Georgiloupouli ein, die tagelange Ahnung wird zur Gewissheit. Der Schwangerschaftstest ist positiv.

Cornelia:
Ich wollte da immer nicht drauf gucken, weil das ja so das endgültige Urteil ist, für das, was ich sowiesoschon wusste. Obwohl es draußen total schön war, hab ich mich ins Bett verkrochen. Und ich hab das so in Erinnerung, dass du dann rein gekommen bist und ich das gesagt habe.

Zitator:
18. September 1981, Notizen:
„Ein Kind zu bekommen, ist was Gesundes“; sagt sie, „und doch wird getan, als sei es eine Krankheit.“
Die Männer amStrand von Kreta legen sich Handtücher über ihre Scham.
Das entstehende Kind, das unbrauchbare Kind.
„Wir sitzen hier als wäre etwas Schreckliches geschehen“, sagt sie später, „Das ist doch absurd. Das ist doch absurd.“

Cornelia:
Ich glaub schon, dass wir darüber geredet haben und auch Ängste und Möglichkeiten formuliert haben, aber hilflos, hilflos, ohne Anbindung an das Innenleben. Man formuliert nach außen hin etwas, was so mechanisch im Hirn funktioniert, ohne aber jetzt so tiefer in eine Gefühlswelt einsteigen zu können. Und natürlich habe ich mir selber Vorwürfe darüber gemacht, dass ich nicht verhütet habe, was auch bescheuert gewesen ist. Entsprach so ein bisschen der damaligen Zeit, nach dem Moto „lässig, lässig“, das geht schon irgendwie und ich kenn ja meinen Körper und jetzt hab ich einen Eisprung und jetzt hab ich keinen Eisprung. Und das ist mit 22 eine Kamikaze-Unternehmung, das so zu machen.

Zitator:
In der Nacht nach dem positiven Schwangerschaftstest schenkt mir mein Vater im Traum ein riesiges Stück Wald mit wunderbaren Bäumen. Es ist ein gutes Gefühl, der Herr Über ein Stück Natur zu sein. Zumindest für einige Zeit. Weil ich nämlich nicht weiß, was ich mit dem Wald machen soll, schenke ich ihn ein paar Tage später weiter an eine Frau.

Erzähler:
Einige Tage fühle ich eine ungeahnte Potenz in der Natur Kretas, nicht so sehr das Bewusstsein, ein Kind gezeugt zu haben, verschafft mir Allmachtsphantasien, sondern die Ahnung einer grenzenlosen Existenz .Ich könnte abheben und über den Strand fliegen, aber die Schwangere kommt nicht mit, sie holt mich wieder auf den profanen Erdboden zurück. Nach einem halben Jahr nehme ich zum ersten Mal eine Getrenntheit zwischen uns wahr. Ja, gut möglich, dass ich auf einem Egotrip bin, gut möglich, dass ich keinen seriösen Partner abgebe. Bin ich jung? Bin ich dumm? Bin ich ahnungslos? Vermutlich von allem etwas. Ich bejahe das Leben in diesen Tagen und in meinen Allmachtsphantasien sehe ich die konkrete Gefahr des Abbruchs nicht.

Cornelia:
Ich glaube, dass ich dich sehr narzisstisch wahrgenommen habe, du warst halt sehr mit dir beschäftigt, in deiner Welt, in deinem Lebensentwurf, und ich glaube, das ist vielleicht auch das Traurige, dass ich dir das nicht zugetraut habe, dass du dich mit der Aufgabe, ein Kind zu bekommen, verändert hättest, ja auch möglicherweise. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Also, das war jenseits meiner Phantasie.
Und ansonsten hab ich sehr viel Angst gehabt, also, wie Angst vor Ablehnung, Angst vor Vorwürfen, Angst vor dem ganzen Berg, der da jetzt zu bewältigen ist. Ich würde mich jetzt nicht als ohnmächtig oder gelähmt bezeichnen, aber ein Stück weit hilflos, überfordert, ratlos, dass ich mich sehr alleine gefühlt habe mit dem ganzen Problem, wie löse ich das jetzt am besten. Und: welchen Weg muss ich da jetzt gehen.

Und der Weg, den ich vor mir gesehen habe, war immer der Weg der Abtreibung und nicht der Weg, das Kind zu behalten.

Erzähler:
Die Phase der Verliebtheit und plötzlich sind wir als Paar vor eine Aufgabe gestellt, die vermutlich ein stärkeres Fundament braucht. Im Herbst 1981 bin ich nicht in der Lage zu sagen: Schau her, wir machen das und das, dann bekommen wir unser Leben mit einem Kind auch hin. Ich war nie praktisch, ich bin heute noch kein praktisch denkender Mensch.

Cornelia:
Vielleicht habe ichj a auch den Eindruck vermittelt, dass ich da gar keine andere Lösung zulassen will oder dass eine andere Lösung für mich gar nicht vorstellbar ist oder dass ich das gar nicht unserer Beziehung zutraue. Das kann ja auch sein. Also, ich glaub schon, dass ich das sehr stark vermittelt habe, dass es da für mich kein Wenn und Aber gibt. Ich behaupte mal, es wäre ganz schwer gewesen, mich da drauf einzulassen, also auf den Wunsch des Mannes, dein Wunsch da einzulassen wirklich, weil ich glaube immer, dass es dieses Vertrauen braucht, dieses Vertrauen, es ist jetzt wirklich ernst gemeint, der Mann will das Kind, der steht zu dem Kind, der steht zu dir und dem Kind, und so läuft das auch. Und so war das a) nicht formuliert und b) hab ich’s dir auch irgendwo nicht zutrauen können, dass ich das nicht ernst genommen habe, auch nicht in der Phantasie ernst genommen hab.

Zitator:
1. Oktober 1981, im Flugzeug von Heraklion nach Berlin:
Vorhin, beim hektischen Aufbruch aus der kleinen Pension in Georgiloupouli, habe ich sie gefragt: „Wo gehen wir hin ni Berlin? Zu mir oder zu dir?“ – „Zu mir“, hat sie erwidert, „du kommst natürlich mit.“ – „Ich komme nicht mit, ich lasse mich von dir nicht bestimmen- merkst du nicht, wie du mich übergehst, wie du mich ungefragt eInplanst, kapierst du das nicht?!?“

Erzähler:
Durch das ungeborene Kind bekomme ich mi damals noch geteilten Berlin Kontakt zu meinem eigenen Kindsein am Oberrhein

Zitator:
Derhelle Lichtstrahl meines Blicks fälltdurch das Dach meines Elternhauses und beleuchtet die Geborgenheit meiner Kindheit. Ich schaue auf den abends mi Bett liegenden Jungen, der ich gewesen bin. Beim Einschlafen denkt er mit gefalteten Händen an seine liebsten Menschen.

Erzähler:
Als sei ich mit einer anderen Frau auf Kreta zusammen gewesen, hat meine Lebensgefährtin in West Berlin nur noch Angst, sich mir zu nähern. Ich wiederum habe Angst, sie zu verlieren. Die Zeit drängt, ab der 10. Woche ist legal kein Schwangerschaftsabbruch mehr möglich.
1981 ist ein Abbruch noch illegal, aber es gibt gesetzlich die Möglichkeit der sozialen Indikation, das heißt, Pro Familia bescheinigt meiner Freundin eine soziale Notlage und gibt ihr ein paar Adressen von Ärzten.

Cornelia:
Ich war nur noch damit beschäftigt, den Abbruch zu organisieren eigentlich. Und es war keiner da, der „Stopp“ hätte sagen können. „Warte mal, setz dich mal hin, entspann dich mal, Kind“ – Ich war ja noch ein bisschen Kind, nicht. – „Und jetzt gucken wir mal, was für Möglichkeiten gibt’s denn?“
Das Positive aufzuzeigen, da war niemand, leider. (leichtes Lachen) Makabererweise war auch in dem ganzen Beratungs- und Arztsystemtunnel, durch den wir da durch mussten, war ja kein einziger, das war ja das blanke Horrorkabinett, was wir da durcharbeitet haben.

Erzähler:
mI Westberlin Anfang der 80er Jahre ist die Frauenbewegung an der FU immer noch ein großes Thema. Der Kampf der Frauen für das Recht auf
Schwangerschaftsabbruch und auf Selbstverwirklichung hat auf uns Studenten großen Einfluss. Ihr Slogan „mein Bauch gehört mir“ dröhnt in meinen Ohren.

Cornelia:
In Berlin war das bestimmt total gegenwärtig, dass es uncool war ein Kind zu kriegen und eine Familie zu gründen. mI Gegensatz zu jetzt, wo ja auf dem Prenzlberg die jungen Familien pilzartig aus dem Boden sprießen, war das damals genau das Gegenteil.
„Ja“ zu einem Kind zu sagen zu dem Zeitpunkt, das war relativ schwierig, gesellschaftlich gesehen. Und wenn dann der familiäre Hintergrund noch so ist, dass die Haltung so ist, also wirklich der Klassiker: „Komm mir bloß nicht mit einem Kind nach Hause“, dann bleibt nicht mehr viel Rückhalt übrig. Entweder man findet den aus sich heraus, oder aus der Partnerschaft heraus. Und wenn dann da nix ist, dann überwiegt doch die Ablehnung, die Angst, eher aus Unwissenheit, aus Dummheit fast, weil man sich auf das andere Lebensmodell ja gar nicht richtig eingelassen hat.

Erzähler:
Heute erst gestehe ich mir ein, dass ich 1981 bei der Frage „Kind – Ja oder Nein“ Schiss vor all den emanzipierten Frauen habe und mich hinter der Entscheidung meiner Partnerin verstecke. Entscheidung ist wohl das falsche Wort. Wir beide -sie auf ihre, ich auf meine Art -k o m m e n am 14. Oktober nicht freiwillig mit dem Taxi bei der Arztpraxis an.

Cornelia:
Ach Gott, ach Gott, also diese ganzen Moralinstanzen von meinem Vater, bis zu den „Jetzt doch nicht“, bis zu den politischen 1981 oder meinen Freundinnen, die sagen: „Och, spinnst du, das ist doch ein bescheuerter Zeitpunkt“, dem Vertrauen in unsere Beziehung nicht richtig nachfühlen zu können, die das überhaupt nicht. . . und so weiter, aus all dem setzt sich der Zwang ja dann zusammen, mehrschichtig.

Cornelia:
Ich weiß, dass ich total Angst hatte, dass ich so gefroren hab und mich total schlecht gefühlt hab. Dass einem mi frühen Schwangerschaftsstadium schlechtist, ist ja nicht ungewöhnlich und diesen Zustand hatte ich teilweise, weil ich hormonell schon so und so weit war. Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Praxis aussah, dass man da ein paar Stufen hochgehen und dass das dann im Erdgeschoss so ein paar Räume waren. Das weiß ich noch, so ein moderneres Gebäude, so ein 60er Jahre Bau. Nichts tolles eigentlich, aber ganz gepflegte Praxis.

Erzähler:
Ich begleite meine Lebensgefährtin ni das Behandlungszimmer. Ich wil das. Sie liegt irgendwann auf dem gynäkologischen Stuhl und ich sitze wie ein Statist ohne eigenen Text neben ihr auf dem Hocker.

Zitator:
Meine Hand legt sich auf die Brust der Liegenden, sie faltet ihre Hände über der meinigen, ich atmeihren Atem mit und nicht den meinigen, ich zucke mit ihren Schmerzen mit und nicht mit den meinigen.

Cornelia:
Ich fand das sehr unangenehm, ich glaub, ich war wahnsinnig angespannt. Und fand das insgesamt sehr quälend und unangenehm, den ganzen Prozess. Ich weiß noch, dass ich den Arzt unsympathisch fand, blöd, komisch, unangenehm, insofern war ich auch froh, dass du dabei warst. Dann weiß ich, dass ich mich entschieden hatte, das mit örtlicher Betäubung zu machen, auch leicht bescheuert, wenn man das mit einer Kurznarkose macht, bekommt man auch viel weniger mit, das ist psychisch viel besserzu verkraften, weil man ein Stück weit was ausblenden kann, das kann man so natürlich gar nicht. Dann hab ich diese Betäubungsspritze bekommen, an den Ablauf kann ich mich auch noch erinnern, und dass er gesagt hat, was er als nächstes macht, und was im Prinzip auch gut war, und dass es insgesamt sehr lange gedauert hat, der Abbruch, das Absaugen, ist es ja eigentlich.

Erzähler:
Der Schock, jetzt der absolute Schock: Plötzlich habe ich das Bild vor Augen, das ich nie mehr los werde- Gewebeklumpen im Glaskolben

Cornelia:
Als er fertig war, hat er gefragt, ob wir das sehen wollten. Und ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob wir gesagt haben Ja oder Nein, auf jeden Fall hat er dann diesen Glaskolben hoch gehoben und da waren so rote, also wie so aus einem Science Fiction Horror Film irgendwie, da war so eine rote Pampe drin.

Cornelia:
Ich weiß noch, dass ich mit anderen über diesen Arzt gesprochen habe, der ja seine Approbation entzogen bekommen hat, der nicht mehr praktizieren durfte, weil ihm unter anderem nachgesagt wurde, dass er bei diesen Abtreibungen, er hat wohl sehr viele gemacht, war wohl der Abtreibungsarzt von Berlin eine Zeitlang, dass er das mit sadistischer Länge durchgeführt hat. Da sind noch andere Vorfälle gewesen, die das zur Folge hatten, dass er es nicht mehr durfte. Auch sehr makaber. Und das war bei uns auch so, dass ich fand, dass der ganze Eingriff unheimlich lange gedauert hat.

Erzähler:
Die Maschinerie der Abtreibung führtin die Katastrophe: „Mach langsam! Halt an!“, hat vor dem Abbruch alles in mir gerufen, aber ich konnte das in die Schleuse der Arztpraxis fahrende massive Schiff nicht stoppen, mit dem Abbruch bricht es durch das Schleusentor hindurch, wir stürzen und stürzen in eine bodenlose Tiefe Was dann war, kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Dann sind wir, glaube ich, mit dem Taxi nach Hause gefahren
Ich glaube, wir sind dann direkt ni die Steinmetzstraße gefahren. Da hab ich ganz viel geheult, also ich hab da ganz viel geheult, weil erst mal ging’s mir nicht gut, zweiten Mal hab ich, glaube ich, auch Schmerzen gehabt, dann hatte ich dieses Loch-im- Bauch-Gefühl also, ich find, du hast dann als Frau schon das Gefühl, dass dir da was rausgerissen wurde. Und mir dann erst dieser Einbruch erst kam, also durch diese Endgültigkeit, jetzt hast du dieses Kind abtreiben lassen und dieses Loch-im-Bauch- Gefühl und dass ich dann heulend im Bett lag, das weiß ich noch. Also, ich war unendlich traurig, überhaupt traurig, dann beginnt ja auch diese hormonelle Umstellung, aber erst einmal war ich entsetzt über den Vorgang der Abtreibung, wahnsinnig unglücklich über die Endgültigkeit des abgetriebenen Kindes, da war ich völlig am Ende, wahnsinnig unglücklich, und traurig, ja, untröstbar.

Erzähler:
Sie ist traurig, aber sie erlebt das Mitgefühl ihrer Freundinnen. So fühle ich mich auch, mit einem Loch im Bauch. Wenn ich aber versuche, mit meinen Freunden darüber zu sprechen, geht das nicht. Sie wissen nicht, was dazu sagen, wechseln peinlich berührt das Thema oder müssen plötzlich weg. Vielleicht weil sie sich, wie so viele junge Männer damals, entschlossen haben, auf keinen Fall Vater zu werden.
Ich ahne in diesen Tagen nur, dass mein innerer Junge in stürmischer See weit, weit abgetrieben wurde und ich alles tun muss, was in meiner Macht steht, ihn eines Tages wieder zu sehen.

Cornelia:
Das ist ja eher immer so das Bild gewesen: Ich hab mich abgetrieben. Ich hab mich selber abgetrieben, ich hab mich damit abgetrieben eigentlich. Oder ein Teil von mir abgetrieben, ich glaub, damit hab ich dann ganz viel zu tun gehabt. Ich hab mich immer selber als Baby gesehen, so, dass ich abgetrieben habe. Was vermutlich, bei mir gibt es ja das Phänomen des ungewollten Kindes. Und ich glaube, das war ja für mich ja auch so ein Moment: Also kein gewolltes, sondern ein 150% gewolltes Kind auf die Welt zu bringen, wenn denn jemals, dann überhaupt nur so. Meine Mutter hätte mich bestimmt abgetrieben, wenn sie denn hätte abtreiben können, also damit hat es ja auch was zu tun, dass sich so ein merkwürdiger Zusammenhang daraus ergeben hat.

Zitator:
6. November 1981 – Eine kurze Szene meiner Ohnmacht und Hilflosigkeit:
„Was ist dasfür eine Art?!“, sagt sie, „ich erzähle dir von mir und du hältst dir dein Tagebuch vors Gesicht.“ – „Du wirfst mir vor, dass ich mir das Tagebuch vors Gesicht halte“ erwidere ich, „aber wer kümmert sich um mich?“

Erzähler:
Wie vor und während des Abbruchs spiele ich auch ni der Folgezeit keine Role, sondern bin der sprachlose Komparse in einem Film, den ich nicht verstehe. Der Schmerz um das abgetriebene Kind bleibt selbst für mich ein Phantom. Mir wurde es zwar nicht aus dem Körper gerissen, aber in Berlin bricht mir der Boden unter den Füßen weg. Mit nichts als Trauer und Schuld im Gemüt überkommt mich die große Sinnlosigkeit und ich vollziehe den zweiten Abbruch: Ich breche das Studium ab und ziehe mich in mich zurück.

Zitator:
Ein Freund provoziert mich. Er kennt mein schwieriges Verhältnis zu meinem Vater und verlangt dennoch genervt von mir: „Dann sag deinem Vater doch: „Ich bin ein Mensch ohneMut, ohne Wille!“

Erzähler:
Das sitzt. Niemals gestehe ich meinem Vater meine Schwäche ein. In Berlin fasse ich keinenFuß mehr, also mache ich mich auf die Suche nach einem neuen Platz in der Welt. Uber die italienische Riviera, wo ich für einige Monate in einer Ferienwohnung von Freunden unterkomme, reise ich im Sommer 1982 nach Paris.
Dort treffe ich meine Lebensgefährtin wieder, sie besucht jetzt eine Schauspielschule. Und ich, auf einem Rheinschiff aufgewachsen, finde auf der Seine den Ort meiner eigenen Kindheit wieder, ein Hausboot, der Boden für mein zukünftiges Leben. Unsere Liebe lebt weiter fort, aber die Angst, wieder ein Kind zu zeugen, schwingt als Demokloschwert über fast aller Sexualität mit meiner Partnerin.

Cornelia:
Ich hab ja auch zwei Fehlgeburten gehabt. .Das heißt, da ist ja das gewollte Leben und das hab ich nicht gekriegt, was ja auch total traurig ist. Also, insofern ist das manchmal so makaber, dass ich denke, ich hab ja auch was hergeben müssen, es ist halt so. Ich find es schon viel, viel Auseinandersetzung mit Kinderwunsch und verhindertem Kinderwunsch und toten Kind, so ni unserer Beziehung, wobei ich jetzt weiß, dass das nicht ungewöhnlich ist, aber ein Aspekt der Beziehung ist, über den ja auch weniggeredet wird: Wie viel „tote Kinder“ gibt’s denn ni eurer Beziehung? Ich meine, darüber unterhält man sich ja nicht, aber das ist eine Tatsache.

Erzähler:
Nach einigen enttäuschten Hoffnungen und viel Trauer bringt meine Lebensgefährtin 1997 unsere gemeinsame Tochter zur Welt. Zehn Jahre später trennen wir uns als Paar und werden zu Freunden. Noch heute sind wir untröstlich darüber, dass wir das erste Kind nicht bekommen haben. Immerhin können wir nun das tun, was wir uns damals versagt haben: ehrlich miteinander über den Abbruch sprechen.

Cornelia:
Wenn man mir jetzt diese merkwürdige Frage stellen würde: Was würden sie anders machen in ihrem Leben, wenn sie es noch einmal anders machen könnten, dann wäre das sicherlich ein Punkt, wo ich sagen würde: Ich würde dieses Kind nicht mehr abtreiben. Und- mit allen Konsequenzen, aus meiner jetzigen Sichtweise.

Erzähler:
Ja, stellen wir uns vor, sie hätte das Kind bekommen. Stellen wir uns ein anderes Leben jenseits des gelebten Lebens der letzten dreißig Jahre vor.

Cornelia:
(leichtes Lachen) Na ja, was natürlich toll wäre, dass ich ein 30-jähriges Kind hab. Was ich toll find, die Vorstellung, so jung Mutter zu sein, ist ja auchwas Faszinierendes daran im Alter. Also, ich glaub, dass das sehr, sehr schwer gewesen wäre für mich. Und es wäre sehr, sehr schwer auch für das Kind gewesen, war ja mein größtes Problem, dass die Entscheidung für ein Kind Verzicht auf vieles andere bedeutet hätte.

Damit habe ich ja am meisten gehadert, ich kann aber nicht verzichten, ich wil nicht verzichten. Und das Kind hätte sicherlich viel von diesem „Das konnte ich wegen dir nicht machen“ abgekriegt. Was jetzt heute, wo wir eine 14-jährige Tochter haben, eintach nicht mehr stattfindet, manchmal schon auch, ich aber weiß, dass das Blödsinn ist und ich das Wesentliche eben alles erlebt und gelebt habe, bevor ich mit ihr schwanger geworden bin.